Auszug aus Prof. Opaschowski

Wohin geht die Reise? Was kommt auf uns zu? Wohlstandsverlust oder Leistungssteigerung, Konsumverzicht oder neue Lebenslust? Wie werden wir in Zukunft arbeiten, wie werden wir leben? Die Wohlstands- und Wohlfahrtsbedingungen ändern sich grundlegend. Was folgt daraus für die Entwicklung der nächsten Jahre? Welche Zukunftstrends zeichnen sich bereits heute ab?

Zukunftstrend 1: Die Globalisierung der Arbeitswelt
Globalisierung wird zum Synonym für weltweite Märkte, Produkte und Dienstleistungen. Globalisierung bedeutet aber auch Verteilung der Arbeit rund um den Globus, also Arbeitsplatz-Export, ja Arbeitsplatz-Abbau. Und für die übrigen verbleibenden Vollzeitbeschäftigten gilt: Ihre Arbeit wird immer intensiver und konzentrierter, zeitlich länger und psychisch belastender, dafür aber auch – aus der Sicht der Unternehmen – immer produktiver und effektiver. Die neue Arbeitsformel für die Zukunft lautet: 0,5 x 2 x 3, d.h. die Hälfte der Mitarbeiter verdient dann doppelt so viel und muss dafür dreimal so viel leisten wie früher.

Zukunftstrend 2: Die Dominanz der Dienstleistung
Vom Industriezeitalter heißt es endgültig Abschied zu nehmen. Es zeichnen sich jedoch Zukunftschancen für eine neue Dienstleistungsgesellschaft ab: In der Dienstleistungsgesellschaft findet eine Verlagerung vom Warenexport zum Wissensexport statt. Das Kapital besteht hauptsächlich aus F- und E-Kompetenzen (Forschung und Entwicklung). Die Dienstleistungsgesellschaft erschließt auch neue Märkte und Arbeitsfelder. Immer mehr Industrieunternehmen wandeln sich zu Dienstleistungsunternehmen.

Zukunftstrend 3: Die Lust an der Leistung
Die befürchtete Leistungsverweigerung fand und findet nicht statt. Im Zeitvergleich der letzten Jahre ist beispielsweise erkennbar, dass Leistung und Lebensgenuss immer gleichgewichtiger beurteilt werden. Leistung und Lust wachsen zusammen: Kein Lebensgenuss ohne Leistung. Umgekehrt gilt aber auch: Lebensgenuss lenkt nicht mehr automatisch von Leistung ab. Der Lebenssinn muss im 21. Jahrhundert neu definiert werden: Leben ist die Lust zu schaffen! Schaffensfreude (und nicht nur bezahlte Arbeitsfreude) umschreibt das künftige Leistungsoptimum von Menschen, die in ihrem Leben weder überfordert noch unterfordert werden wollen.

Zukunftstrend 4: Die Mediatisierung des Lebens
Die Medientechnologien ändern sich schneller als die Mediengewohnheiten der Menschen. Auch in Zukunft fährt die Masse der Konsumenten ‚voll auf das TV-Programm ab’. Und die Prognose der Medienbranche „Web frisst Fernsehen“ erfüllt sich nicht. Das Fernsehen bleibt das wichtigste Leitmedium im Alltagsverhalten der Menschen. Die Informationsgesellschaft bleibt eine Vision. Auch in Zukunft werden die meisten Bürger lieber konsumieren als sich informieren.

Zukunftstrend 5: Die Kinderlosigkeit
Nach dem Kriege bis in die neunziger Jahre hinein waren für die Bevölkerung Familie sowie Ehe und Partnerschaft die persönlich wichtigsten Bereiche im Leben. Stehen bald die Freunde, die Clique und der Bekanntenkreis im Zentrum des Lebens? Werden die Freunde wichtiger als die Familie? Was früher nur eine Art „zweite Familie“ war, kann zum Lebensmittelpunkt werden, weil die Freunde der Familie den Rang ablaufen. Ein solcher Trend zu einer Gesellschaft von Singles und Cliquen könnte folgenreich sein: Ein wachsender Anteil von Menschen würde dann in Zukunft im hohen Alter einer kinder- und enkellosen Generation angehören.

Zukunftstrend 6: Die Zuwanderung
Eine weltweite Migration setzt ein. Die Europäer, die heute die Hauptlast der Zuwanderung zu tragen haben, sollten sich jedoch in Erinnerung rufen, dass sie selbst Jahrhunderte lang an Zuwanderungsbewegungen beteiligt waren und sind. Im Rahmen des Siedlungskolonialismus wanderten Europäer nach Amerika, Afrika und Australien. Im Rahmen der Wirtschaftsflucht wandern seit Jahren Osteuropäer nach Westeuropa. Zuwanderung bedeutet immer auch Abwanderung. Für das Herkunftsland kann die Abwanderung negative Effekte haben. Andererseits sind auch positive Migrationseffekte möglich:

Zukunftstrend 7: Die Überalterung
Die Bevölkerung altert dramatisch. Die Lebenserwartung steigt weiter an. Bis zum Jahre 2040 wird sich der Anteil der über 60-jährigen Bevölkerung verdoppeln. Die Überalterung ist vorprogrammiert: Österreich wird grau und zählt zu den Ländern in der westlichen Welt mit den niedrigsten Geburtenraten und höchsten Altenanteilen.

Zukunftstrend 8: Die Gesundheitsorientierung
Die Gesundheit wird zum Megamarkt der Zukunft. In der immer älter werdenden Gesellschaft boomen dann Bio- und Gentechnologien, Pharmaforschung und Forschungsindustrien gegen Krebs, Alzheimer und Demenz sowie gesundheitsnahe Branchen, die Care und Wellness, Vitalität und Revitalisierung anbieten. Die Gesundheit bekommt in Zukunft fast Religionscharakter und das Gesundheitswesen nimmt dann die Form einer Kirche an. Es dominiert ein gesundheitsorientiertes Lebenskonzept, bei dem das Wohlfühlen in der eigenen Haut zum wichtigsten Bestimmungsmerkmal für Lebensqualität wird.

Zukunftstrend 9: Die Rückkehr der Verantwortung
Ein Wandel vom bowling alone zum bowling together findet statt: Eine Wiederentdeckung des Gemeinsinns im Sinne von mehr Gemeinsamkeit und weniger Egoismus. Es kündigt sich der radikalste Wertewandel seit dreißig Jahren an: Die Rückkehr der Verantwortung als Antwort auf Verunsicherungen und Vertrauensverluste. Verantwortungsbereitschaft hat wieder eine größere Bedeutung als Durchsetzungsvermögen. Verantwortung wird zum Schlüsselbegriff für die Zukunft: Gemeint ist die Verantwortung für einander, die Verantwortung für die Umwelt und die Verantwortung für das Wohl der kommenden Generationen.

Zukunftstrend 10: Die Sinnsuche
Die Welt nach dem 11. September hat die Menschen verändert. Die Suche nach Sinn, Halt und Heimat verstärkt sich. Im Zeitvergleich ist feststellbar, dass sich die Menschen wieder mehr für eine bessere Gesellschaft interessieren und auch mithelfen wollen, eine bessere Gesellschaft zu schaffen. Die Menschen suchen eine Sinnorientierung, die Beständigkeit und Wesentliches in das Leben bringt. Religiosität als Lebensgefühl kehrt in den Alltag zurück.
Die Bürger entdecken langsam die Familie wieder. Hat eine lange Phase der Kinderlosigkeit bald ihren Zenit erreicht oder überschritten? Zählt Familienorientierung wieder mehr als Wohlstandssteigerung? Eine Renaissance der Familie ist in naher Zukunft möglich: Die Familie wird dann zum Wohlfahrtsverband. Vom Generationenpakt auf privater Basis profitieren primär Generationen mit familialen Netzwerken. Alle anderen (insbesondere Singles und Kinderlose) müssen dagegen schauen, dass sie im Laufe ihres Lebens verlässliche nichtverwandte soziale Netze knüpfen. Näher und ferner stehende Menschen müssen ihr Leben begleiten: sogenannte soziale Konvois im außerfamilialen Bereich.
Die Zukunft gehört einer sozialen Leistungsgesellschaft, in der alle etwas leisten wollen und auch leisten können. Die künftige Leistungsgesellschaft wird gleichermaßen eine Dienstleistungs- und eine Hilfeleistungsgesellschaft sein, in der sich die Menschen wieder gegenseitig mehr helfen, weil sie mehr als bisher aufeinander angewiesen sind. Es zeichnet sich ein grundlegender Einstellungswandel zu mehr sozialer Verantwortung, zu mehr Sinn- und zu mehr Familienorientierung ab, der sich allerdings nur langsam entwickelt und erst nach dem Jahr 2020 demografische Veränderungen oder gar einen Baby-Boom auslösen wird. Die Wohlstandsformel in Bertolt Brechts Dreigroschenoper – „Nur wer im Wohlstand lebt, lebt angenehm“ – wird im 21. Jahrhundert neu bewertet. Wohlstand wird zu einer Frage des sozialen Wohlbefindens. In Zukunft kann Wohlstand auch bedeuten, weniger Güter zu besitzen und doch besser zu leben. Also: Gut leben statt viel haben!
Wer soziales Wohlbefinden (und nicht nur materiellen Wohlstand) erreichen will, sollte – neben den christlichen Geboten natürlich – die folgenden 10 Anleitungen und Gebote für ein gelingendes Leben im 21. Jahrhundert beherzigen:

  1. Bleib nicht dauernd dran; schalt doch mal ab. Entdecke die Hängematte wieder.
  2. Versuche nicht, permanent deinen Lebensstandard zu ver-bessern oder ihn gar mit Lebensqualität zu verwechseln.
  3. Mach die Familie zur Konstante deines Lebens und ermutige Kinder zu dauerhaften Bindungen.
  4. Knüpf dir ein verlässliches soziales Netz, damit dich Freunde und Nachbarn als soziale Konvois ein Leben lang begleiten können.
  5. Definiere deinen Lebenssinn neu: Leben ist die Lust zu schaffen.
  6. Genieße nach Maß, damit du länger genießen kannst.
  7. Mach nicht alle deine Träume wahr; heb dir noch unerfüllte Wünsche auf.
  8. Du allein kannst es, aber du kannst es nicht allein. Hilf anderen, damit auch dir geholfen wird.
  9. Tu nichts auf Kosten anderer oder zu Lasten nachwachsender Generationen. Sorge nachhaltig dafür, dass das Leben kommender Generationen lebenswert bleibt.
  10. Verdien dir deine Lebensqualität – durch Arbeit oder gute Werke: Es gibt nichts Gutes; es sei denn, man tut es.

Grundlagenliteratur
Opaschowski, H.W.: Deutschland 2020. Wie wir morgen leben – Prognosen der Wissenschaft, 2. erweiterte Aufl., Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2006 (ISBN 38100-4168-8)
Opaschowski, H.W.: Das Moses-Prinzip. Die 10 Gebote des 21. Jahrhunderts, 4. Aufl., Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2007 (ISBN 3-579-06947-0) – Auch als Hörbuch 2007
Opaschowski, H.W.: Minimex. Das Zukunftsmodell einer sozialen Gesellschaft, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2007 (ISBN 978-3-579-06976-0)
Opaschowski, H.W. (mit U. Reinhardt): Altersträume. Illusion und Wirklichkeit, Darmstadt: Primus Verlag 2007 (ISBN 978-3-89678-261-5)

Weitere Informationen unter:
www.opaschowski.de